OHG 2023

Häusliche Gewalt in der Schweiz
Die Opferhilfestatistik 2018 bis 2023 aus einem anderen Blickwinkel

Der von KidsToo erstellte Bericht ist hier abrufbar.

Das Wichtigste in Kürze

Der Verlauf an zur Verfügung stehender Daten (seit 2018, d.h. 6 Jahre) ist noch zu gering, um daraus einen oder mehrere Tendenzen ableiten zu können. Ausserdem können die Jahre 2020 und 2021(und sogar 2022) mit der Covid 19-Pandemie grundsätzlich nicht als “normale” Jahre betrachtet werden. Diese Punkte sollten beim Lesen der folgenden Zusammenfassung berücksichtigt werden.

Psychische und emotionale Schwierigkeiten, Loyalitätskonflikte, anhaltender täglicher Kontakt und Vergeltungsmassnahmen der Tatperson, mit welchen geschädigte Personen häuslicher Gewalt während des gesamten Straf- und/oder Zivilverfahrens konfrontiert werden, führen dazu, dass es ein Teil von ihnen vorzieht, auf eine Anzeige zu verzichten und zumindest vorübergehend in den Gewaltkreislauf zurückzukeh-ren, in der Hoffnung auf eine (sehr hypothetische) Einsicht der Tatperson und deren Besserung.

Der Einfluss der Art der Straftat auf den Hilfsbedarf

Gemäss den Daten des BFS für das Jahr 2023 über die Opferhilfestatistik ist die Anzahl der OHG-Beratungsanfragen aus dem familiären Bereich (26’285) insgesamt doppelt so hoch wie die Anzahl der Personen, die eine Anzeige erstattet haben (PKS 11’479).

Die Straftaten “Körperverletzung und Tätlichkeiten” erfordern am wenigsten OHG-Unterstützung (2.01 Beratungen pro 1 Anzeige). Dicht gefolgt von “Erpressung, Drohungen und Zwang” (2.67). Die “Anderen Straftaten gegen die Freiheit” liegen bereits bei fast 4 (3.95). Sexualdelikte sind im Allgemeinen diejenigen, die die meiste Unterstützung von den OHG-Zentren benötigen. “Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung” liegt bei 5.23, “Sexuelle Handlungen mit Kindern” und “Andere Straftaten gegen die sexuelle Integrität” liegen bei 7.97 bzw. 10.2.
Bei “Sexuelle Handlungen mit Abhängigen”, bei denen die meisten Beratungen gegenüber einer bekannten, aber nicht zur Familie gehörenden Person erfolgen, liegt das Verhältnis bei 2.33.

Der Einfluss der Art der Beziehung zwischen Opfer und Täter auf die OHG-Beratung

Wenn man die Beratungen anhand der Achse der Nähe zwischen dem mutmaßlichen Täter und dem Opfer über alle Arten von Straftaten hinweg analysiert, wird deutlich, dass Opfer von häuslicher Gewalt im Vergleich zu Opfern von “nicht häuslicher” Gewalt mit zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Bei allen kumulierten Straftaten ist es für Opfer häuslicher Gewalt 1,5- bis 2-mal schwieriger, eine Anzeige gegen einen “Ex-Partner” zu erstatten, als für ein Opfer “nicht häuslicher” Gewalt gegen den “nicht familiären” Täter. Bei einem “Partner”-Täter steigt der Schwierigkeitsfaktor auf 3-3.5. Für “Andere” Täter ist der Schwierigkeitsfaktor am höchsten und liegt zwischen 3.2 und 3.8.
Die in diesem Bericht verwendete Terminologie “Andere” kann den Eindruck erwecken, dass die Nähe zwischen Opfer und Täter/in gering ist. Aber in dieser Kategorie “Andere” ist der Anteil der “Eltern, Elternersatz / Kind” am größten (zwischen 60 und 65%), was den Faktor der Nähe teilweise wieder einführt. Insgesamt ist der Anteil der “Sonstigen” am höchsten, was auf die Straftat “Sexuelle Handlungen mit Kindern” zurückzuführen ist, bei der 90% der Täter “Sonstige” sind, von denen die “Eltern, Elternersatz” mehr als die Hälfte ausmachen.

Was wäre, wenn es “genauso einfach” wäre, Anzeige gegen häusliche Gewalt zu erstatten wie gegen “nicht-haushaltsbezogene” Gewalt?

Unter der Annahme, dass die Behandlung von Straftaten häuslicher Gewalt für die Geschädigten genauso “einfach” ist wie bei anderen Gewaltdelikten, käme man auf Zahlen für häusliche Gewalt 2023, die über :

  • Bei der Anzahl der geschädigten Personen von 11’479, der “offiziellen” Zahl der PKS im Jahr 2023, auf 35’027 oder sogar auf 46’290, wenn man die Altersklasse (minderjährig und volljährig) der Täter berücksichtigt, oder sogar auf 62’995, wenn man das Geschlecht des Täters und die Art seiner Beziehung zu der geschädigten Person berücksichtigt.
  • Die Zahl der angezeigten Straftaten im Jahr 2023 steigt von 19’918 auf 60’778 oder sogar auf 144’586, wenn man die gleichen Parameter wie oben berücksichtigt.

Und jetzt?

Eine Verbesserung der rechtlichen Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt wird höchstwahrscheinlich zu einem Anstieg der Anzeigen führen, zumindest kurz- bis mittelfristig. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass die häusliche Gewalt zunimmt, sondern vielmehr, dass die Dunkelziffer der Kriminalität, die der Polizei nicht bekannt ist oder nicht angezeigt wird, sinkt.

Eine Verbesserung kann nicht erreicht werden, ohne zusätzliche Mittel auf der Ebene :

  • Strafjustiz (Stellen für Polizisten, Staatsanwälte, Strafrichter),
  • Strafvollzug (Programme zur Betreuung von Tätern, Plätze in Täterheimen oder bei Rückfälligkeit in Gefängnissen),
  • Ziviljustiz (Stellen für Richter, die u. a. Experten für häusliche Gewalt vom Typ Zwangskontrolle und deren Reproduktion (generationenübergreifende Gewalt) sind),
  • Die Ausbildung von … allen,
  • Eine Berichterstattung in den Medien, die mehr und besser das Opfer und sein Umfeld als den Täter berücksichtigt, u. a. wenn das Opfer gestorben ist (Feminizid, Filizid).

Politisch hat sich die Schweiz vertraglich verpflichtet, Gewalt, häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Dieser Kampf erfordert und wird Mittel erfordern, die sich in finanziellen Kosten auf Ebene des Bundes (ein wenig), der Kantone (hauptsächlich) und der Gemeinden niederschlagen werden. Diesen zusätzlichen Kosten steht die Schätzung der intangiblen Kosten in der Paarbeziehung von 2013 in Höhe von 1’969 Millionen CHF gegenüber. Dieser Betrag kann bei ansonsten gleichen Bedingungen als jährlich betrachtet werden.